web - Die Demokratien zerlegen sich selbst
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Im Streben, für möglichst viele Wähler attraktiv zu sein, mutierten die Weltanschauungsparteien von einst zu Volks- oder Allerweltsparteien ("catchall parties") und verloren dadurch nach und nach ihr klares Profil und mit ihm auch ihre Wähler. Der Parteienwettbewerb entpolitisierte sie substanziell. In den Allerweltsparteien ringen nicht mehr soziale Lebenswelten mit unterschiedlichen Entwürfen für eine gute Politik und Gesellschaft.
Und nun folgte Schritt für Schritt und unerbittlich der lange Marsch ins politische Nichts. Um die Mehrheit der Wähler zu erreichen, unterhalten die Volksparteien viel zu enge Verbindungen zu Interessenverbänden, die ihnen im Gegenzug ein Massenreservoir leicht zugänglicher Wähler bieten.
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Regierungsbeteiligung, mittels derer man sich die Zuarbeit von Beamten, Referenten, Sekretariaten sichert, ist essenziell für den Fortbestand der politischen Organisation geworden. Ohne könnten sie keine zwei Tage in der Wildbahn der Freiheit überleben. Die politischen Parteien sind im wahren Sinn des Wortes staatlich alimentierte Schmarotzer.
Diese Entwicklung hat in Jahrzehnten in allen entwickelten Demokratien stattgefunden und die bestehenden politischen Verhältnisse in ihr Gegenteil verkehrt: Sie hat die Demokratien in substanzlose Oligarchien umgewandelt. Der Prozess hat heute in den meisten Demokratien einen existenzbedrohenden Höhepunkt erreicht.
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Nie zuvor sei die amerikanische Demokratie "so reif für eine Tyrannei" gewesen wie heute, warnt der Publizist Andrew Sullivan und vergleicht die Situation mit der späten Weimarer Republik. Die USA zeigen nach Ansicht führender Faschismusforscher Symptome der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts in Europa. Nie war Amerika dem Faschismus so nahe wie heute.
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Das leichtfertige Gerede von der "Politikverdrossenheit" suggeriert die absolut abwegige Implikation, es handele sich dabei um ein Problem der Bürger. Die seien geistig verwirrt, müde, schlapp, lustlos und antriebsarm. Sie befänden sich auf einem gefährlichen Irrweg und litten an einer schwer heilbaren Gemütskrankheit. Gerade darin liegt die Infamie des psychologisierenden Begriffs für ein Phänomen, das mit Psychologie nichts zu tun hat, sondern mit Politik und politisch verhärteten Strukturen.
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Den Vogel abgeschossen hat indes unzweifelhaft eine Studie über den Beitrag der ZDF-Satire "heute show" zur Politikverdrossenheit. Darin heißt es allen Ernstes: "Vorwürfe, die 'heute show' würde zu einer Politikverdrossenheit beitragen, können … infolge einer kurz- bis mittelfristigen Rezeption nicht bestätigt werden." Große Erleichterung. "Vielmehr deutet sich an, dass die Rezeption der 'heute show' bei 18- bis 26Jährigen zu einer Art Verdrossenheit gegenüber Politikern führt." Schlussfolgerung? Muss man jetzt besonders heftige PR-Maßnahmen auf 18- bis 28jährige Menschen richten, damit die wieder auf Linie kommen und von ihrer frevelhaften Verdrossenheit ablassen? Manchmal kann es einen in die Verzweiflung treiben, was so alles im Gewande der Wissenschaftlichkeit an krausem Zeuch daherstolziert kommt…
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Quelle</p<>