Es ist 2015, ein Großteil der Bevölkerung hat sich in schwer bewachte Inseln der Bequemlichkeit zurückgezogen:
Technische Ökosysteme einzelner Anbieter nehmen uns die harte Arbeit ab, unsere Mobiltelefone, Computer oder Fitnesstracker selbst auszuwählen oder noch deren Funktion verstehen zu müssen. Wir lassen ihre kommerziellen Interessen entscheiden, welche Medien, Nachrichten und Meinungsäußerungen wir wahrnehmen und welche den global gültigen AGBs entsprechen.
Filterblasen erlösen uns von der Qual, selbst denken zu müssen. Meinungsstarke Agitatoren geben akzeptable Informationsquellen und griffige Feindbilder vor.
Mit dem Friedensnobelpreis geadelte Staatengemeinschaften nehmen uns die moralische Last, über die Kosten unseres Wohlstands nachdenken zu müssen: Sie üben sich im Mauerbau, Biometrie-Experimenten und diskutieren den Schießbefehl – und lindern die Angst, die sie täglich schüren.
Der Politbetrieb nimmt uns die Last gesellschaftlicher Verantwortung, Mitbestimmung oder auch nur Einsichtnahme ab: Hinter verschlossenen Türen wird das Alternativlose in Abkommen zementiert.
Transnationale Überwachungssysteme helfen uns vorsorglich, unsere Mitmenschen in Gute und Böse, Nützlinge und Schädlinge einzuteilen. In einer umhegten Welt voll knapp vereitelter Terroranschläge und karriereentscheidender Sozialnetzwerkkontakte nehmen wir dankbar die Gelegenheit wahr, keine eigenen Gewissensentscheidungen fällen zu müssen. Systemveränderer und Umstürzler stören nur die Harmonie und werden ausgeblendet, blockiert, belästigt, verhaftet – oder in ihre eigenen Filterblasen abgeschoben.
Die Bewacher unserer Netze und Browser entledigen uns der schweren Entscheidung, welche unserer Verbindungen verzichtbar sind. Wir kommen nur noch in den Genuss jener Dienste, die sich uns leisten können, und werden mit relevanten Angeboten in genau der Geschwindigkeit versorgt, die uns zusteht.
Der Congress gibt uns Raum, Dinge selber zu machen, selber zu diskutieren, selber zu denken, selber zu entscheiden und selber basteln zu können. Unsere eigene Gated Community hilft uns gegen allerhand Bullshit-Bingo der Außenwelt.
Kommt doch mal raus aus Eurer und stattet uns einen Besuch ab.
Quelle
Treffender hätte man den Namen nicht wählen können. Apropos, kommt ruhig vorbei, wir Chaoten zeigen euch gern, wie ein Leben ohne Gated Community funktioniert.
Nach nur kurzer Prüfung einer Strafanzeige des Verfassungsschutzes ermittelt der Generalbundesanwalt gegen die Redaktion von netzpolitik.org. Der Chaos Computer Club (CCC) gratuliert der Redaktion zu dieser seltenen journalistischen Auszeichnung und sichert tatkräftige sowie finanzielle Unterstützung zu. Wir rufen dazu auf, Generalbundesanwalt Harald Range weitere Anlässe für Einschüchterungskampagnen gegen Journalisten zu liefern.
Nur eine ausführliche Verratsdatenspeicherung kann dem Generalbundesanwalt jetzt noch helfen, den Überblick zu behalten:
Welche Journalisten berichten über verfassungsfeindliche Praktiken der Geheimdienste?
Wer äußert sich noch kritisch gegen Überwachungsfetischisten?
Wer hindert V-Männer des Verfassungsschutzes an Aufbau und Unterstützung rechtsradikaler Strukturen?
Wer entfernt Wasserhähne von Großbaustellen?
„Endlich haben wir herausgefunden, wie man Herrn Range aus seiner Lethargie reißt!“, freut sich Dirk Engling, Sprecher des CCC. „Lange dachten wir, der Abfluß von Daten inländischer Bürger und Institutionen kümmere den GBA gar nicht. Nun wurden wir eines Besseren belehrt. Sorgen wir dafür, daß es viel für ihn zu tun gibt!“
Herr Range hat die Chance, in die Geschichte einzugehen. In der Spiegel-Affäre von 1962 betrug die Summe der Hafttage für Journalisten rund 190. Eine schöne Herausforderung, um die niedrige zweistellige Plazierung der Bundesrepublik auf der Rangliste der Pressefreiheit endlich in den soliden dreistelligen Bereich auszubauen.
Der Chaos Computer Club möchte daher die schönsten im Jahr 2015 gegen Journalisten oder ihre Quellen eingeleiteten Ermittlungsverfahren wegen Landes- oder Hochverrats mit jeweils einem Freiticket zum nächsten Chaos Communication Congress (32C3) prämieren.
Teilnehmer sind aufgerufen, sich an die Journalisten, den CCC oder Whistleblowing-Plattformen Ihrer Wahl zu wenden. Wir freuen uns auf Einreichungen in den Themenbereichen
Geheimdienste und Massenüberwachung, samt kommerzieller Partnerfirmen,
Verdeckte Ermittlungen und Verbindungspersonen,
Rekonstruktion geschredderter Akten,
Unterstützung und Duldung rechtsradikaler Terroristen,
Halt! Passkontrolle! – eine kritische Geschichte des Passes und der Reisefreiheit Wieso müssen sich Menschen ausweisen? Und wieso versuchen Staaten ihre und fremde Bürger*innen zu identifizieren? [...]